Anna Essinger
Anna Essinger war eine Frau voller Weltoffenheit, Weitsicht und unerschütterlichem Pragmatismus. Sie half mit Mut und Konsequenz immer wieder Erwachsenen und Kindern in Not, getreu ihrem Wahlspruch:
Reiche Kindern die Hand, gib ihnen eine Chance.
Unterstützt wurde sie von einem solidarischen Familienverband und treuen Freunden aus vielen Ländern.
Familie
1879
Als erstes Kind von Leopold Essinger und Fanny geb. Oppenheimer wird Anna Essinger am 15.09.1879 in Ulm geboren. Bis 1896 kommen neun Geschwister zur Welt: Marie, Klara, Willy, Ida, Fritz, Max, Paula und Berta. Der Stammbaum der jüdischen Familie reicht bis ins Jahr 1690 zurück. Großvater Dr. David Essinger, ein angesehener Arzt und Ehrenbürger von Oberdorf am Ipf, verbringt seinen Lebensabend in Ulm. Das Versicherungsbüro von Annas Vater ist nur mäßig erfolgreich. Umso mehr muss man in der Familie zusammenhalten:
Die Anna flicht der Mutter Zopf, Die Marie hat Anna am Schopf, Die Klär macht Marie Ponnie Bürste, die Ida flicht der Klär zwei Würste, Die Paula brennt der Idl Locken, (das arme Ding tut ganz erschrocken.) Die kleine Bertl versucht hinten, der Paula einen Zopf zu binden.
Mit 20 zieht Anna als Pflegetochter zu ihrer Tante Regina nach Nashville/Tennessee. Schnell macht sie sich unabhängig, studiert Germanistik und finanziert ihr Studium mit Sprachunterricht. Anna führt ein privates Studentinnenheim und schließt eine lebenslange Freundschaft mit den Quäkern. Diese kennen das Organisationstalent der jungen Lehrerin mit Magisterexamen.
1919
In einer humanitären Aktion wird sie 1919 nach dem Weltkrieg in das hungernde Deutschland geschickt. In Baden Württemberg und Bayern `reiste sie in allen Städten herum, rief die Bürgermeister, Lehrer und Direktoren zusammen, erklärte ihnen, dass sie gratis Lebensmittel und Kleidung für ihre Kinder bekommen, wenn sie eine Küche zur Verfügung stellen, so dass jedes Kind einmal am Tag eine warme Mahlzeit bekommen wird.´
Reformpädagogik
Klär Weimersheimer, Annas Schwester, hatte schon 1912 in Herrlingen ein Kinderheim gegründet. Es sollte `zarten, physisch und psychisch leidenden, schwer erziehbaren und zurückgebliebenen Kindern eine besonders sorgfältige, heilerzieherische Pflege und Entwicklung ihrer Fähigkeiten bieten.´
Ihre drei eigenen Kinder und die Pflegekinder lebten in einer großen Familie zusammen. `Lichtbäder` und vegetarische Ernährung verwundern die Dorfbewohner, genauso wie Klärs Plan, eine neue Schule zu gründen, als die Ältesten schulpflichtig werden. `Eines Tages im Sommer 1925´, so berichtet ihre Schwester Paula, `als wir wie immer zum Geburtstag unserer Mutter zusammenkamen, machte Klär den Vorschlag, wir sollten ein Schulheim anfangen.´ Am 1. Mai 1926 konnte mit Unterstützung der gesamten Familie Essinger das Landschulheim Herrlingen eröffnet werden.
1926
Anna Essinger übernahm die Leitung. Paula, eine ausgebildete Kinderschwester, förderte die ABC-Schützen nach der Montessori-Methode. Unter den Gästen der Eröffnungsfeier sind Ministerialrat Otto Hirsch, die Oberbürgermeister von Ulm und Göppingen sowie Theodor Heuss, der spätere erste Bundespräsident. `Es ist wichtiger gemeinsam etwas zu tun, als nur gleiche Ansichten zu haben.´
Leben im Landschulheim
Das Erleben von Gemeinschaft förderte im Landschulheim eine Atmosphäre, in der Kinder sich geborgen fühlen, gleichzeitig aber Selbständigkeit mit einem Gefühl der
Verantwortlichkeit entwickeln. Jeder Tag begann mit einem gemeinsamen Waldlauf. Nach Duschen und Frühstück gingen die Kinder zum Unterricht: `Wir haben nicht nur gelernt, sondern Lernen war unzertrennlich mit Sport und Gymnastik, künstlerischen Tätigkeiten, mit Turnen, Formen, Zeichnen und Gesang verknüpft.´ Im Speisesaal beim Mittagessen gaben alle sich die Hände und Anna sagte: `Kindlein, liebet einander und wenn das nicht geht, so duldet euch.´ Es gab `französische` und `englische` Tische. Hier durfte nur in der Fremdsprache gesprochen werden. `Hausämter`, Werkarbeit, Kunst, Theater, Musik und Gartenarbeit füllen die Nachmittage. Gemeinsames Musizieren, Vorlesen und Geschichten erzählen beschließen den Tag, bevor Anna jedem Kind eine Gute Nacht wünscht. Vom Gärtner zur Schulleiterin erhalten alle dieselbe Bezahlung und alle sind per Du: `Der Lehrer muss ein Beispiel geben, im Lernen, Lachen, Lieben, Leben.´
1933
Bis 1933 lebt das Landschulheim Herrlingen in fünf Häusern nach dem Motto: `Jungen und Mädchen lernen nachzufragen, neugierig und selbständig zu sein und Sachen selbst herauszufinden. Bei allen Arbeiten wird das kritische Denken gefördert.´
Flucht nach England
Anna Essingers mutiger und weitsichtiger Entschluss fällt schon im Frühjahr. Sie erkennt, wie wenige Pädagogen, frühzeitig die Gefahr der Rassenideologie des Nationalsozialismus und handelt schnell und umsichtig.
1933
Als an Hitlers Geburtstag auch im Landschulheim die Hakenkreuzfahne gehisst werden muss, setzt sie einen Wandertag an. Doch als in der Schule ein Staatskommissar eingesetzt werden soll, sucht sie einen Zufluchtsort für das Landschulheim. In einer dramatischen Aktion erreichen 66 Kinder und ihre Lehrer aus Herrlingen Südengland. Am 5. Oktober 1933 fängt in Bunce Court, Kent, der Unterricht an. In Deutschland werden jüdische Kinder aus den NS-genormten staatlichen Schulen vertrieben. Für sie findet Anna mit Hugo Rosenthal (1887 – 1980) einen hervorragenden Pädagogen, der bis 1939 das Landschulheim in Herrlingen als jüdische Privatschule weiterführen kann.
`Wir waren von Anfang an überzeugt, dass Wärme und ein Gefühl der Sicherheit für das Wachstum dieser entwurzelten Kinder wesentlich seien. Wir hatten ein zweifaches Ziel: Die Kinder spüren zu lassen, dass sich die menschlichen Werte trotz allem, was geschehen war, nicht geändert haben und dass die kulturellen Grundlagen der Kinder es Wert waren, gepflegt zu werden, obwohl sie von ihrer Heimat getrennt waren.`
Bunce Court
Bunce
Court, das Herrenhaus aus der Zeit Heinrichs VIII. mit 40 Morgen Wald
und Wiesen und 43 Zimmern auf 3 Stockwerken bot dafür gute
Voraussetzungen. Bei der
praktischen Arbeit in Haus und Garten mit
dem Ziel der Selbstversorgung half die Schulgemeinde nach Kräften mit.
Ein Schulinspektor fragte einen Zwölfjährigen, ob sie auch in
Deutschland praktisch gearbeitet hätten. `Dort war das eine pädagogische
Maßnahme, und hier ist es eine Notwendigkeit.´, gab er zur Antwort.
Wegen der Emigrationsschicksale war in Bunce Court ein ständiges Kommen
und Gehen und bis 1935 verdoppelte sich die Schülerzahl. Bis 1940 wurde
trotz ständiger Geldnot angebaut und umgebaut. Gebäude entstanden auf
dem Schulgelände oder wurden angemietet, trotzdem war die Schule
erfolgreich und ermöglichte den Kindern in England anerkannte
Abschlüsse.
Anna Essinger gewann rasch prominente Fürsprecher aus Kirchen, Wissenschaft und Politik. Bunce Court pflegte Kontakte durch Konzerte, Theateraufführungen und Sportwettkämpfe. Wochenenden bei Gastfamilien und der jährliche `Open Day´ verankerten die Schule in der Region.
Niemand von uns kannte die Kinder, in vielen Fällen waren nicht einmal die nackten Fakten der Herkunft bekannt.
Kindertransporte
1938
Nach den Pogromen der `Reichskristallnacht´ am 9. November 1938 änderte England seine Einwanderungspolitik. Es erlaubte 10.000 Kindern, aber nicht deren Eltern, ohne Visum nach England zu kommen. In dieser Situation wurde Anna Essinger aufgefordert, `für das Wohlergehen und die Erziehung´ der Kinder zu sorgen, die im kalten Winter 1938/39 im Sommerferienlager Dovercourt ankamen. Mit älteren Schülern, einer Köchin und Lehrern half sie, ein Auffanglager einzurichten und mühte sich verzweifelt, die Flüchtlingskinder gut in Familien und Heimen unterzubringen. In Bunce Court baute man weitere Schlafsäle. Über 100 Kinder wurden zunächst in einem Krankenhaus und einer Farm untergebracht. `Zu der Zeit´, erinnert sich Hans Meyer, `war es weniger wichtig, ein guter Lehrer zu sein, als ein verständnisvoller Mensch. Es war wichtiger, ihnen einen Gute-Nacht-Kuss zu geben, als dass man ausgezeichnet deutsche Literatur unterrichtete.´ Es gab noch teilweise Briefkontakt zu den Eltern, doch bald kam keine Nachricht mehr:
`Man hat versucht, sie über die Zeit der Stille hinwegzubringen. Wir wussten nicht, was mit den Eltern passiert war. Wir konnten ihnen keine Hoffnung machen, ihnen diese aber auch nicht nehmen.´
Exil
1939
Am 1. September 1939 wurden die Grenzen geschlossen. In Bunce Court, einem Zufluchtsort jetzt auch für Erwachsene, gab es somit überqualifiziertes Hauspersonal wie Schuhmacher, Gärtner oder den Schulzahnarzt. Dazu kamen Familienmitglieder: Anna, Paula und Bertha hießen ihre Mutter und die Schwester Ida willkommen.
Anna, inzwischen 60 und gesundheitlich angeschlagen, lebte karg in einem engen Schlafzimmer, das Wohnzimmer war Rektorat und Lehrerzimmer zugleich. Weil Südengland zum Verteidigungsgebiet erklärt wurde, musste die Schule im Juni 1940 binnen 3 Tagen evakuiert werden. Wieder war das Landschulheim auf der Flucht und wieder bewährte sich Anna bei der Suche nach einem Notquartier. Trench Hall, ein Herrenhaus in den Midlands, war allerdings kaum als Schulhaus geeignet. Doch unter unsäglichen Mühen der Schulfamilie ging das Internatsleben `ganz normal´ weiter. Gemeinsam hatten Kinder und Lehrer Angst um die Angehörigen, die zurückgeblieben waren. Ab 1943 blieben auch die spärlichen Rotkreuznachrichten aus. Doch erst im Frühjahr 1945 wurde die Wirklichkeit des Holocaust sichtbar. Die meisten Angehörigen hatten nicht überlebt.
Letzte Jahre
1945
Am Kriegsende und mit 66 Jahren längst in dem Alter, um in den Ruhestand zu treten, verhandelte Anna wegen der Freigabe von Bunce Court durch die Armee. `Im September 1945 schlief sie auf einem Feldbett in ihrem alten Wohnzimmer. In der Küche hatte ein alter Landstreicher seinen Wohnsitz bezogen und sie ließ ihn dableiben.´ Im Juni 1946 kehrten 100 Kinder nach Bunce Court zurück. Während viele nach dem Schulabschluss ihren Beruf fanden, begann die vielleicht schwierigste pädagogische Arbeit. Unter den Überlebenden der Konzentrationslager befanden sich Jugendliche, die als Kinder in die Lager gekommen waren. Sie waren es nicht mehr gewohnt, in einer Gemeinschaft zu leben, in der sich Menschen respektieren und gern haben. Nur mühsam lernten sie Regeln und Absprachen, die ein Leben in der Schulgemeinschaft möglich machen.
1948
Über 900 Kinder aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei, Polen und England hatten seit 1926 die Schule besucht, als das Internat am 27. Juli 1948 geschlossen wurde. Für viele dieser Kinder gingen Familie und Heimatort verloren. Bunce Court war für sie `die einzige Heimat, die sie hatten.´ Anna wohnte bis zu ihrem Lebensende in Bunce Court und blieb mit den Schülern in Kontakt. Nach ihrer Erblindung tippte für sie ein Sekretär Briefe in verschiedene Teile der Welt. Die Schüler `schienen sie sehr gern zu haben und nannten sie Tante Anna.´ Anna Essinger starb am 30. Mai 1960 in Bunce Court.
1960
Ihr Schüler, Prof. Dr. Leslie Brent, würdigte sie bei der Einäscherung:
`Ihr Tod wird tief betrauert von uns, denen sie half, ihr Leben, das in Brüche gegangen war, wieder aufzubauen. Tante Anna widmete sich mit unbeirrbarer Zielstrebigkeit dem Anliegen der Rettung junger Menschen vor der Verfolgung durch Nazideutschland. Sie fand Kraft dafür in ihrem unerschütterlichen Glauben an den Fortschritt der Menschheit. Vor allem hatte sie den Mut, zu ihren Überzeugungen zu stehen. Obwohl Tante Anna keineswegs Atheistin war und sich immer ihrer jüdischen Wurzeln bewusst war, sah sie sich nicht in der Lage, das Dogma irgendeiner Religion anzunehmen, sei es im Leben oder im Tode.´
Hans-Jörg Greimel